Ich schäme mich nicht 1, das zuzugeben: Manchmal packt auch mich der Drang, etwa als Akt betrunkener Verbrüderung, inbrünstig Bon Jovis Livin’ on a Prayer 2 mitzukreischen. Heute traf ich im Bus das erste Mal jemanden, der diesen Song still für sich auf dem MP3-Player hörte, allem Anschein nach unnarkotisiert und auf dem Weg zur Arbeit. Nicht einmal seinen Head bangte er dazu. Er wischte einfach seelenruhig durch seine Facebook-Timeline und likete Gruppenselfies und Ottervideos wie alle anderen braven Fahrgäste auch, als würde sich da in seinen Ohren nicht gerade die gleichzeitig dramatischste und mittelmäßigste Rückung der Poprockgeschichte anbahnen.
Wie muss ich mir das Leben eines Menschen vorstellen, der ohne eine Gefühlsregung zu zeigen Livin’ on a Prayer in einem vollen Bus hört? Ist der Song für ihn der tägliche Soundtrack zu einem “guten Start in den Tag”, wie ihn einem diese Formatradioarschlöcher immer wünschen?
Vielleicht fuhr aber auch gar nicht zur Arbeit, sondern nach der Nachtschicht heim, die Hände kalt und steif, die Beine schwer und müde, schloss kurz zufrieden die Augen und dachte bei sich: “Meine Schichten als Straßenlaternenwiederantreter mögen oft hart und einsam sein, aber spätestens wenn sich Richie Samboras Talkboxgitarre an den eisenharten Rhythmus schmiegt, sind alle meine Sorgen vergessen.”
Es ist mir unmöglich, beim Hören von Livin’ on a Prayer Freude zu empfinden, solang ich dabei niemandem ins Gesicht schreien kann. Wer Bon Jovis Musik der Achtziger in aller Stille genießen kann, muss jemand sein, der sich selbst genug ist und nicht in den Pupillen irgendeines Gegenübers suchen muss, um zu wissen, wo er im Leben steht. Die Gewissheit, dass einer dieser bemerkenswerten Menschen nachts auf Heidelbergs Randbezirke aufpasst, lässt mich ruhig schlafen und süß träumen.