Erstaunliche Menschen zum Staunen (1): Der Bon-Jovi-Mann

Ich schäme mich nicht 1, das zuzugeben: Manchmal packt auch mich der Drang, etwa als Akt betrunkener Verbrüderung, inbrünstig Bon Jovis Livin’ on a Prayer 2 mitzukreischen. Heute traf ich im Bus das erste Mal jemanden, der diesen Song still für sich auf dem MP3-Player hörte, allem Anschein nach unnarkotisiert und auf dem Weg zur Arbeit. Nicht einmal seinen Head bangte er dazu. Er wischte einfach seelenruhig durch seine Facebook-Timeline und likete Gruppenselfies und Ottervideos wie alle anderen braven Fahrgäste auch, als würde sich da in seinen Ohren nicht gerade die gleichzeitig dramatischste und mittelmäßigste Rückung der Poprockgeschichte anbahnen.

Wie muss ich mir das Leben eines Menschen vorstellen, der ohne eine Gefühlsregung zu zeigen Livin’ on a Prayer in einem vollen Bus hört? Ist der Song für ihn der tägliche Soundtrack zu einem “guten Start in den Tag”, wie ihn einem diese Formatradioarschlöcher immer wünschen?

Vielleicht fuhr aber auch gar nicht zur Arbeit, sondern nach der Nachtschicht heim, die Hände kalt und steif, die Beine schwer und müde, schloss kurz zufrieden die Augen und dachte bei sich: “Meine Schichten als Straßenlaternenwiederantreter mögen oft hart und einsam sein, aber spätestens wenn sich Richie Samboras Talkboxgitarre an den eisenharten Rhythmus schmiegt, sind alle meine Sorgen vergessen.”

Es ist mir unmöglich, beim Hören von Livin’ on a Prayer Freude zu empfinden, solang ich dabei niemandem ins Gesicht schreien kann. Wer Bon Jovis Musik der Achtziger in aller Stille genießen kann, muss jemand sein, der sich selbst genug ist und nicht in den Pupillen irgendeines Gegenübers suchen muss, um zu wissen, wo er im Leben steht. Die Gewissheit, dass einer dieser bemerkenswerten Menschen nachts auf Heidelbergs Randbezirke aufpasst, lässt mich ruhig schlafen und süß träumen.


  1. Naja, eigentlich doch.  

  2. Obacht: Link führt zum Promovideo des Bon-Jovi-Hits Livin’ on a Prayer

Thanks, Obama!

Obama geht und der andere kommt. Ein bisschen Nostalgie, um mich selbst aufzumuntern.

Am 4. November 2008 saß ich mit meinen Nachbarn und Vermietern im Keller unseres Hauses in Brooklyn, New York, und verfolgte die Präsidentschaftswahlen.

Ein paar Tage vorher ging ich in irgendein riesiges Kino und sah mir “W” an, ein lustig gemeintes Portrait über George W. Bush. Neben mir saßen Alex, mein Mitbewohner, der von seinen Freunden immer “Peru” genannt wurde und aus Venezuela kam, und mein Nachbar Alonso, ein ecuadorianischer Modedesigner, dessen Geschichten, er habe in erfolgreicheren Zeiten Kleider für Björk entworfen und mit Catherine Deneuve auf Dinnerpartys geflirtet, erstaunlicherweise jeder Überprüfung standhielten.

Ich hatte noch andere Freunde gefragt, ob sie mitkommen wollten, die winkten aber dankend ab und meinten, so lange Dubbya noch Präsident sei und es die Möglichkeit gebe, dass es mit McCain und Palin (!) so weitergehe, könnten sie sich das nicht antun: “Well, the joke’s on us, isn’t it? The guy is our president.”

Für Alonso war Obama nicht weniger als der Messias: Mit ihm würden sich innerhalb weniger Monate die Probleme der USA und der Welt in Luft auflösen. Entsprechend hing alles von dieser Wahl ab. Wenn Alonso bei unseren fast täglichen Fernsehabenden die zweite Literflasche Rotwein aufmachte, redete er bereits in einer Vehemenz auf uns ein, als wäre irgendjemand von uns wahlberechtigt gewesen oder hätte im Traum daran gedacht jemand anderen zu wählen. Neben Obama gab es für ihn nur einen weiteren brauchbaren Politiker auf der Welt: Hugo Chavez. Wenn das Gespräch auf ihn kam, ging Peru ins Bett.

Wir saßen also bei unseren Vermietern vor dem Fernseher. Sie wohnten im Keller des Hauses, mit Lehmboden und ohne Tageslicht. Das Haus war alles, was sie besaßen, jeder Penny ihres Vermögens steckte darin. Sie hatten beide Zeiten erlebt, in denen “Leute wie sie” in den USA nicht gleichberechtigt wählen durften. Ihr Sohn war ein ehrfurchteinflößender, schwarzer Hühne in baggy Basketballkleidung, hatte mal in Deutschland bei einer Reederei gearbeitet und machte sich einen Spaß daraus, mir nachts mit seinem Pitbull auf der Straße aufzulauern und so zu tun, als wolle er mich überfallen.

Als die Nachricht kam, dass Obama genügend Electoral Votes bekommen würde, brach in unserem Viertel die Hölle los. Es war Weihnachten, Silvester und der Unabhängigkeitstag in einem, auch angesichts der Feiertraditionen, derer man sich bediente. Gemeinsam mit Marie und Carlos, Alonsos Mitbewohnern, die ihr professionelles Glück im Produzieren von Videos suchten, sprangen wir samt Kamera in die U-Bahn und fuhren nach Manhattan.

Schon auf der Fahrt interviewte Alonso unsere Mitfahrer mit emotional aufgeladenen Suggestivfragen und Carlos hielt drauf. Wenn Alonso die Interviewten mal zu Wort kommen ließ, verzichtete niemand auf die magischen Worte: “hope” und “change”. Das waren damals keine Leerphrasen, sondern nach acht Jahren Bush aufrichtige Wünsche.

Wir schafften es gerade rechtzeitig zu Obamas victory speech ins East Village.

Nach dem pflichtgemäßen, aber offensichtlich aufrichtigen “Thank you, God bless you, and may God bless the United States of America” drehte der Barkeeper den Jackson-Five-Song “I Want You Back” mit seiner euphorisch ausufernden Bassline auf und wir lagen uns mit Fremden in den Armen.

Eine WG am St. Mark’s Place hatte gigantische Boxen auf die Feuertreppen vor ihrer Wohnung gestellt und aufgedreht (natürlich verboten), mehrere hundert Menschen versammelten sich davor auf der Straße (verboten), tranken Alkohol (sowas von verboten) und wir stimmten gemeinsam zwischen Rihanna- und Justice-Songs The Star-Spangled Banner an. Die Polizei sperrte die Straße einfach für Autos ab und schaute nicht so genau hin, was in den Flaschen war.

Alonso hatte wohl noch in der Nacht einen Zusammenbruch und war eine Woche lang krank. Noch in meiner Wohnung hörte ich ihn schnarchen. Zwei Monate Dauerstress und die wohl wildeste Feiernacht seines Lebens hatten ihn niedergestreckt, er war ja auch keine 40 mehr.

Ich will nicht zu viel verraten, aber: Die Probleme der Welt lösten sich nicht innerhalb von wenigen Monaten. Natürlich musste nach so einer Feier der Kater kommen. Natürlich war Obama weder Christus noch King noch Chavez. In seiner Amtszeit war er mit beispiellosen Problemen konfrontiert und traf manche Entscheidungen, die mich und viele andere empörten.

Wer von Obama im Großen und Ganzen enttäuscht ist, dem unterstelle ich trotzdem entweder irre Ansprüche, mangelnde Kenntnis darüber, was ein Einzelner bewirken kann, oder schlichtweg Unkenntnis über seine Erfolge. Die USA sind heute ein Land, das sich (bis jetzt) zu Maßnahmen gegen den Klimawandel bekennt, in dem man (vorerst) nicht unehrenhaft aus dem Militär entlassen wird, wenn man sich zu seiner Sexualität bekennt, in dem Menschen (noch) eine Chance auf Gesundheitsversorgung haben, in dem Homosexuelle heiraten können (looking at you, Deutschland!), und in dem ein schwarzer Mann, der vier Jahre lang von der Opposition verleumdet, schamlos beleidigt und sabotiert wurde, ein zweites Mal zum Präsidenten gewählt wird. Nicht obwohl, sondern weil er sich nie auf dieses Niveau herabgelassen hat.

Wenn ich Obama heute sehe und mir vorstelle, dass eine sexistische, rassistische und grundkorrupte Mandarine seinen Platz einnehmen wird, dann denke ich wieder an den 4. November 2008 und die Monate davor. An die Depression der New Yorker, die acht Jahre unter Bush geächzt hatten, und das ekstatische Gefühl der Erleichterung, als die Bush-Regierung endlich am Ende war. Das Gefühl, dass es auch anders geht.

Die USA haben acht Jahre Bush überlebt. Und ich werde im November 2020 im East Village sitzen.